Vom Selbst und von Verlust

Die Sonne lässt meine Augen rinnen.

Die rettende Wolke schiebt sich langsam heran.

Das Salz schmerzt.

Die Innenseiten meiner Augen glühen.

Mein Inneres glüht.

Das Glas in meiner Hand schwitzt.

Der Schweiß rinnt meine Fingerkuppen entlang;

ich kann ihn nicht aufhalten. Gehe rasch weiter.

Die Wolke ist weitergezogen; das Salz kehrt zurück.

Der Schweiß verhindert das Bekämpfen meines inneren Glühens.

Wasserverlust außen; Selbstverlust innen.

… Haruki Murakami: Von Beruf Schriftsteller …

Alles, was ich mir wünsche, ist, dass die Fantasie der Kinder, die welche haben, nicht erstickt wird. Jedes Kind sollte einen Platz bekommen, an dem seine Individualität überleben kann, damit unsere Gesellschaft erfüllter und freier wird.

Haruki Murakami: Von Beruf Schriftsteller. Köln: DuMont 2016.
Zitat

… Ernst Lothar: Das Wunder des Überlebens …

Als Adrienne wenige Tage nach unserer Ankunft aus Amerika neben dem Fahrer eines Lastwagens Platz nahm, um die aus dem kleinen Haus in Morzg geraubten Möbel von Leuten in Ischl zurückzukaufen, die sie den Räubern abgekauft hatten, und der Fahrer bevor sie noch fuhren, Adrienne fragte:“Leiden S‘ in Amerika auch so unter den Juden?“, war im Grunde alles gesagt, worin ich die Gefahr sah und noch heute sehe: die Voreingenommenheit, die Unbelehrbarkeit, die Unversöhnlichkeit, die Frevelhaftigkeit mangelnder Einsicht.

Ernst Lothar: Das Wunder des Überlebens. Wien: Paul Zsolnay 1960 und 2020.

… Elif Shafak: Unerhörte Stimmen …

Du solltest dich nie für deine Träume schämen! Wenn du schreist, wissen alle, dass du lebst.

Die Kameradschaft der beiden hatte den Stürmen der Zeit getrotzt wie ein Olivenbaum, der mit jedem Jahr kräftiger wurde.

Auch Leila selbst sah den Fehler noch lange bei sich. Daran war sie damals gewöhnt. Alles, was sie dachte und tat, war mit Schuld verbunden.

Das Schweigen wucherte in den Raum hinein und gerann zu einem hässlichen formlosen Gebilde, das wie Schaumalgen im Spätsommerteich träge zu wabern schien.

Elif Shafak: Unerhörte Stimmen. Zürich, Berlin: Kein & Aber 2019.

… Fallen …

Er schlug seine Stirn gegen die Wand. Immer und immer wieder. Trotzdem wollte die Haut nicht reißen, kein warmer, roter Strom sein Gesicht bedecken. Das Gefühl des Fallens hörte nicht auf. Sein Blick war tränentrüb, in seinem Mund ein salziger Geschmack. Er starrte an die Wand, ließ sich in die weiße Unregelmäßigkeit fallen.

… Ein Abschied …

Er starrte lange auf das zerfließende Grau. Wartete nur noch auf ein bestimmtes Geräusch. Langsam setzte er den ersten Schritt, dann den zweiten. Die folgenden immer schneller und schneller. Das Geräusch wurde zu einem Tosen, zu einem Pfeifen. Mit zunehmender Lautstärke wurde es schöner, mit größerer Nähe erlösender.
Dann war das Grau unter seinen Füßen verschwunden. Dann war er weg.
Eine Herzattacke, ein hysterisches Schreien. Jemand übergab sich.
Am nächsten Tag erinnerte nichts mehr an seinen Abschied … nichts mehr an ihn.

… (End)Rauschen. II …

Robert war verärgert. Wieder keine Kugel. Er schleuderte die Waffe in die Lade, schloss sie lautstark. Es war sieben Uhr. Er nahm den Whisky, setzte an und trank in einem Zug alles aus, die halbe Flasche. Ihm war nicht leichter, aber er freute sich schon auf den Rausch. Sollte er sich noch schnell Nachschub holen. Irgendwo hatte er noch Geldreserven. Er begann zu suchen.
Im beginnenden Rauschzustand, fand er endlich, was er suchte. Umständlich zog er sich Hose und T-Shirt an, stolperte in seine Schuhe, verließ die Wohnung.
Robert bemühte sich, den Weg mit überlegten Schritten hinter sich zu bringen. Mit jedem Meter bemächtigte sich der Rausch seines Gehirns. Er begann zu lachen, verzog sein Gesicht zu einer Fratze. Sofort setzte er ein ernstes Gesicht auf, um einen Augenblick später wild loszulachen. Ein Hund sah ihn verwundert an, sein Anhang schüttelte den Kopf. Wenigstens hatte sie jetzt etwas zu erzählen.
Bevor er das Geschäft betrat, versuchte Robert, sich soweit an seinen Rausch zu gewöhnen, um sein Vorhaben umsetzen zu können. Er ging hinein, nickte dem Augustinverkäufer zu, wie jedes Mal, und ging direkt in die Spirituosenabteilung. Er hatte Lust auf mehr Whisky, obwohl anderes billiger war.
Robert stand vor dem Regal mit den unterschiedlichen Sorten. Schaute von den Namen zu den Preisen und von den Preisen zu den Namen. Verdammt, alles war teuer.
Er wollte aber kein billiges Erdäpfeldestillat sondern Alkohol mit irgendeinem Geschmack. Sein Blick blieb an einer Flasche kleben. Den hatte er doch auch vorhin gerade geleert. Das Geld reichte auch. Erst jetzt bemerkte er das Schwanken des Regals. Er schaute zur Seite und ein älterer Herr, der den Kopf schüttelte, kam in sein Blickfeld. Als Robert ihn ansah, wandte er sich ab, ging rasch davon. Der Griff zur Falsche, eine Drehung nach links und der Gang zur Kassa.
Die frische Luft tat Robert gut. Selbst der Augustinverkäufer betrachtete ihn mit zur Seite geneigtem Kopf.
Schnell nach Hause.
Ein schwieriges Unterfangen. Mit jedem Schritt verdichtete sich der Alkoholnebel. Es erschwerte die Kontrolle über seine Hülle.
Diese Hülle, ein ständiges Problem. Sein Selbst wollte diese elende Hülle ausdünnen. Wollte sie verschwinden lassen, um frei zu sein, endlich erlöst von einem ungewollten Dasein.
Er konnte nicht mehr weiter, musste eine Parkbank bemühen. Fasziniert beobachtete er sein tanzendes Blickfeld.
Nur nicht die Augen schließen.